Jazz trifft Ballett am Rhein
Düsseldorf (kle) Unglaublich, aber wahr: Ein Lied kommt, wann es will. Das jetzt gerade heißt „Equilibrio“ (Spanisch für Gleichgewicht) und schleicht sich beinahe unbemerkt aus den Lautsprechern des Kölner Cafés Feynsinn. Die drei französischen Jazz-Musikerinnen Camille, Juliette und Louise – auch besser bekannt unter dem Namen Les trois copines – streicheln in diesem reinen Instrumentalstück Piano, Bass und Schlagzeug in Zeitlupentempo so souple, dass man in den knapp zwei Minuten Laufzeit in eine Art inneres Gleichgewicht gelangen kann.
Ein paar Stunden zuvor im Probenhaus für das Ballett am Rhein: Daniela Matys, Referentin des Ballettdirektors Raphaël Coumes-Marquet, führt mich durch das von außen futuristisch anmutende Gebäude des Balletthauses, das nunmehr seit über zehn Jahren in Düsseldorf-Bilk in direkter Nachbarschaft zum historischen Rheinbahn-Depot „Am Steinberg“ steht. Beeindruckend. Vor allem der in der oberen Etage gelegene Lagerraum für die Spitzenschuhe. Besitzt doch jede Tänzerin ein persönliches Regal für ihre individuell angepassten und zugeschnittenen Tanzschuhe. Wie viele Paare dieser speziellen Schuhe sich tatsächlich in diesem Raum befinden: unklar. Vermutlich mehr als 500.
Eines dieser Paare an diesem Nachmittag trägt die Tänzerin Sophie Martin, die zusammen mit Tänzer Orazio Di Bella und der Choreografin und Tänzerin Neshama Nashman in Studio 5 für die Aufführung „Die Frage der Zeit“ probt. Hintergrund: Bei dieser von Nashman geschaffenen Kreation handelt es sich um ein Stück, das beim diesjährigen Jazz-City-Bilk-Festival eine Art Guten-Tag von Jazzmusik und zeitgenössischem Tanz abzubilden versucht. Jazzmusiker und Komponist Wolfgang Schmidke hat extra für „Die Frage der Zeit“ eine viersätzige Suite komponiert und sie nach dem Ort der künstlerischen Begegnung mit dem Titel „Bilk Suite“ benannt.
Nun ist es einem Musikjournalisten nicht jeden Tag vergönnt, Mäuschen bei der Probe einer Tanzvorführung beizuwohnen. Einen umso denkwürdigeren Charakter besitzt dieser Besuch. Martin und Di Bella scheinen gut mit ihm umgehen zu können, sind die beiden doch sowieso vollends auf Nashmans Anweisungen fokussiert. Anweisungen, die die gebürtige Kanadierin dem Arbeitspärchen stets mit einer gehörigen Portion Sanftmut herüberreicht.
Nashman liebt das, was sie macht. Das spürt man. Und dann geben Martin – Preisträgerin des Critic's Circle National Dance Award – und Di Bella, der schon für das slowakische Nationalballett tanzte, so richtig Gas. Zunächst ohne Musik, versteht sich. Ihre einstudierten Bewegungsabläufe folgen einem Muster, das zu erkennen unmöglich erscheint. Mal tanzen sie für sich alleine, ein anderes Mal eng umschlungen, als hießen sie Yin und Yang. Nach etwa vier Minuten stoppen die zwei ihren ersten Probedurchgang. Di Bellas Brustkorb hebt und senkt sich. Perfektionierter Leistungssport am Anschlag ist das.
Als kurze Zeit später Schmidtkes Komposition vom Band abgespielt wird, brechen alle Dämme. Es ist, als pulverisierten sich die Töne und Schläge, um gleichsam danach wie Elektrizität in die Körper des Ausnahme-Duos zu schießen. Ergebnis: ein machtvoller Synergismus zwischen Musik und Bewegung – eine liebevolle Symbiose zwischen Martin und Di Bella.
Wohl ganz nach dem Geschmack von Raphaël Coumes-Marquet, dem neuen Direktor des Balletts am Rhein, der genau das anstrebt: Verwebungen Vernetzungen und Verflechtungen. Und das nicht nur auf künstlerischer, sondern auch auf kultureller und ganz besonders auf gesellschaftlicher Ebene.
Dem ehemals „Best Young Dancer“ (Dance Magazine 1995) sei es eine Herzensangelegenheit, nicht nur zwischen der Bilker Jazz- und Ballettszene eine enge Zusammenarbeit zu etablieren, sondern darüber hinaus zu demonstrieren, dass Ballett – ebenso wie auch Jazz – keineswegs etwas Schnödes, gar Verstaubtes ist. „Ballett und Jazz gehören nach Bilk“, sagt Coumes-Marquet. Alles im Gleichgewicht sozusagen. „Equilibrio“. Ein Lied kommt, wann es will.