Reiner Witzel: der Draufgänger

Düsseldorf (kle) Als an einem späten Nachmittag Mitte Januar der Düsseldorfer Saxophonist Reiner Witzel die schwere Glastür des Cafés „Anna Maria“ im Ehrenhof aufstößt und das Entrée betritt, scheinen die restlichen Besucher des Cafés für einen kurzen Augenblick ihre Zwiegespräche über bildende Künste zu unterbrechen und nur ihn wahrnehmen zu können. Denn Witzel, das muss man wissen, ist der Typ Mensch, der einen Raum flutet. Mit Leichtigkeit. Ernst und Mut. Sofort. Die klassische Jazz-Instrumentalnummer „Love To Be Happy“ (Magpie Jazz Trio), die sich in diesem Moment beinahe übertrieben sanft aus den Lautsprechern quält, verleiht Witzels Auftritt den notwendigen Groove. Auf die Frage, was denn in dem kleinen Köfferchen sei, das er fest umschlossen unter seinem Arm trägt, antwortet er amüsiert „Mein Saxophon“.

Und dann erzählt der gebürtige Mannheimer von seinem schwarzen Wintermantel, den er sichtlich nur schweren Herzens einige Meter weiter an einen der Haken der Garderobe aufhängt, weil er am Platz nur stören würde. Der Mantel habe einst dem Düsseldorfer Musiker-Urgestein Wolfgang „Wölfi“ Engstfeld gehört. Er habe ihn aus dessen Nachlass erhalten. Wölfi war einst Lehrer von Witzel, eine Art Mentor, wie er ihn selbst bezeichnet. Die beiden schätzten sich gegenseitig sehr. „Jetzt werde ich fast täglich von seinem Mantel umgeben“, sagt er und blickt dabei lange in den Milchschaum des Kaffees. Was für eine Geschichte. Überhaupt steht das Thema Wertschätzung ganz weit oben auf Witzels Agenda. Mit dem US-amerikanischen Star-Pianisten Richie Beirach zum Beispiel pflegt er eine intensive private und musikalische Freundschaft. Deren Ergebnis seien jedoch nicht nur gemeinsame lange Nächte zusammen bei einem guten Glas Wein, sondern ebenso einige produzierte Alben und Konzertmitschnitte, beispielsweise das 2023 veröffentlichte Quintett-Album mit dem Titel „The World Within“: ein bisschen Downtown, ein bisschen Free-, Smooth- und Cooljazz. Dass es schon immer Jazz sein musste, sei dem jungen und musikhungrigen Düsseldorfer Witzel in den 1980er-Jahren vollkommen klar gewesen. Auch deshalb habe er nicht eine Sekunde lang darüber nachgedacht, das Stipendium für ein Musikstudium in New York City zu Beginn der 1990er-Jahre auszuschlagen. Nur einmal sei eine Art Familienrat zusammengekommen, in dem er sich seinen Eltern erklären musste. „Willst du wirklich Musiker sein und werden?“, fragten ihn Mutter und Vater da. Sein „Ja“ sei klar, deutlich und vor allem unumstößlich gewesen. Einen zweiten Familienrat hat es danach nie wieder gegeben. Dabei kann er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Aber das kann Witzel, der auch schon für Größen wie The Supremes, Udo Lindenberg oder auch Fela Kuti gespielt hat, generell nur selten, während er über und von Musik redet. Sie ist für ihn eine Art allumfassende Macht, die verschiedene Stilistiken, Generationen und Völker miteinander zu verbinden und zu versöhnen imstande ist. Vor allem, wenn er seine Geschichten über Lagos und die nigerianische Musik-Legende Fela Kuti auspackt, fangen Witzels Augen an zu leuchten wie Rohdiamanten. „Warst du damals als Ausländer in Lagos unterwegs und gerietst in eine Straßenkontrolle, war das ganz schön gefährlich“, konstatiert Witzel. Allein die Tatsache, dass er Saxophon für Kuti spielte, habe ihm das ein oder andere Mal die Haut gerettet. Witzel, der Draufgänger. Der, der sich was traut. Der, der nicht nur redet, sondern lieber macht. Und: der, der hingeht. Zu den Menschen. Mit seinem Saxophon. Erst im letzten Jahr. Da reiste er zusammen mit Freund und Pianist Marcus Schinkel nach Nepal, um dort mit einem Kinder- und Melodika-Orchester eines kleinen Waisenkinderdorfes Beethovens „Alle Menschen werden Brüder. Ode an die Freude“ einzustudieren und aufzuführen. Sieht man sich das dazugehörige Dokumentations-Video an, kann einem ein Kloß im Halse steckenbleiben. Die Kinder wirken wie elektrisiert auf den Aufnahmen, geben sich ganz und gar dem einen Ziel hin. Und Witzel? Der gibt ihnen diese Energie zurück. Am Tag der Aufführung schließlich steht er inmitten der nepalesischen Gemeinde, die ihn und die Kinder umjubelt. Sein Saxophon hält er dabei wie seinen Schatz fest in beiden Händen.  

Nach zwei Stunden Cappuccino und Gespräch schlüpft Philanthrop Reiner Witzel wieder zurück in seinen Wölfi-Mantel. Schön warm und kuschelig sieht der aus. Dann verabschiedet er sich, und in feinster Columbo-Manier kommt er noch einmal kurz zurück, greift nach dem kleinen Köfferchen und sagt: „Jetzt hätte ich doch glatt mein Saxophon vergessen!“


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