Melissa Etheridge: „Musik bringt Menschen woanders hin“

Köln (kle)

Melissa Etheridge (geb. 29. Mai 1961 in Kansas) ist eine US-amerikanische Rock-Sängerin, Gitarristin und Songschreiberin. Sie wurde Ende der 1980er-Jahre mit ihrem Debütalbum und dem Hit „Bring Me Some Water“ bekannt. Der internationale Durchbruch gelang ihr in den 1990ern mit Songs wie „Come to My Window“ und „I’m the Only One“, wofür sie mehrere Grammy Awards erhielt. Ihr Musikstil verbindet emotionalen Folk-Rock mit ehrlichen, oft autobiografischen Texten.

Etheridge machte 1993 öffentlich, dass sie lesbisch ist und engagiert sich seither offen für LGBTQ-Rechte. 2004 erkrankte sie an Brustkrebs, kehrte aber nach ihrer Genesung eindrucksvoll auf die Bühne zurück. 2007 gewann sie den Oscar für den Song „I Need to Wake Up“ aus dem Klimadokumentarfilm An Inconvenient Truth. Bis heute hat sie über 25 Millionen Tonträger verkauft und zählt zu den einflussreichsten Rockmusikerinnen ihrer Generation.

Ein Gespräch mit Melissa Etheridge

Wie geht es Ihnen, Miss Etheridge?

Oh, mir geht’s fantastisch. Es ist ein wunderschöner Tag. Derzeit befinde ich mich an der Ostküste Kanadas. Genauer gesagt an den Niagarafällen.

Was hat Sie als Teenager dazu gebracht, Konzerte in Gefängnissen zu spielen?

Nun, ich bin in Leavenworth, Kansas aufgewachsen, das liegt in den USA. Leavenworth ist bekannt für sein großes Bundesgefängnis. Es war quasi das Gefängnis der Vereinigten Staaten. Mit berühmten Insassen wie Al Capone. Das Gefängnis war nur drei Blocks von meinem Haus entfernt. Und 1968 oder 1969, ich war etwa acht Jahre alt, kam Johnny Cash in meine Stadt, aber er trat nur im Gefängnis auf, nicht öffentlich. Ich dachte also: „Gefängnisse müssen Orte voller Unterhaltung sein.“
Später spielte ich in Musikgruppen, die in Gefängnissen auftraten. Die Reaktionen waren so dankbar und intensiv. Das hat mich sehr beeindruckt. Das waren die ersten begeisterten Zuhörer, die mich gar nicht kannten, aber einfach die Musik liebten. Das hat mich geprägt.

Der Schmerz von Trennungen, Brustkrebs, der Verlust eines Kindes, Corona, Trump, dann der Ukrainekrieg. Sogar Trump ein zweites Mal: Wie bleiben Sie zuversichtlich?

Ich liebe das Leben. Und ich habe verstanden: Das Leben ist voller Verluste. Das ist ein Teil davon. Niemand geht durchs Leben, ohne Menschen oder Dinge zu verlieren, die man liebt. Diese Erfahrungen zwingen uns dazu, zu wählen, was uns heilt, was uns glücklich macht.
Ich habe schon lange aufgehört, anderen zu sagen, was sie tun sollen. Das funktioniert nicht. Jeder Mensch ist anders. Ich kann niemanden ändern, vor allem nicht durch Anschreien oder Predigten. Aber ich kann mein eigenes Leben bedeutungsvoll und erfüllend gestalten und zeigen, dass mein Glück in meiner Hand liegt. Ich brauche keine äußeren Umstände, um glücklich zu sein. Wahres Glück ist unabhängig von anderen.

Das ist ganz schön philosophisch.

Ja, das ist es. Und es hat sehr lange gedauert, mental dahin zu kommen.

Warum denken Sie, dass 2025 die beste Zeit für junge Musikerinnen ist?

Frauen müssen nicht das Zepter übernehmen, aber ihre Stimmen bringen Trost. Die weibliche Perspektive ist wichtig, sie ergänzt die männliche Energie. Frauen haben lange geschwiegen, besonders in der Musik. Jetzt ist es großartig, dass sie alles Mögliche machen: Rocken, rebellisch oder einfach sie selbst sein.

Haben Sie ein Beispiel? Mögen Sie eine aktuelle Pop- oder Rockkünstlerin?

Ja, Chappell Roan. Sie ist großartig. Sie hat eine Figur geschaffen, ein Konzept, und es hat viele junge Menschen erreicht, auch Männer. Wenn man „Pink Pony Club“ hört, singt man den Song den ganzen Tag mit. Großartig!

Sie haben früher mal gesagt, Sie wollten reich und berühmt werden. Berühmt sind Sie. Sind Sie auch reich?

Ist man je wirklich reich? Ich bin auf jeden Fall reicher als früher. Es gibt natürlich Leute, die mehr haben (Sie lacht): Das ist auch okay. Ich hatte zwei Scheidungen, da ist einiges an Geld draufgegangen. Aber mal im Ernst: Ich bin reich an Leben. Ich habe wundervolle Kinder, mittlerweile eine schöne Ehe, ein tolles Zuhause. Ich habe Träume und Pläne. Das alles hält mich lebendig. Also ja, ich bin sehr reich – innerlich.

Kommen wir noch mal kurz auf Ihre schweren Schicksalsschläge zurück: Brustkrebs, dann vor fünf Jahren der Tod Ihres Sohnes Beckett. Wie haben Sie es geschafft, weiter auf der Bühne zu stehen?

Unser Sohn starb zu Beginn von Covid, alle waren isoliert. Ich baute mir ein Streaming-Studio zu Hause. Ich lernte viel Technik, wurde kreativ. Ich sang täglich, spielte Cover, übte – das alles half mir, um gesund zu werden. Ich umgab mich mit Dingen und Menschen, die ich liebe. Ich glaube an das Nicht-Körperliche und daran, dass er noch nah ist. Und ich glaube: Ich werde ihn wiedersehen. Das hilft mir.

Was macht Ihnen Angst?

Ich habe ein interessantes Verhältnis zur Angst. Ich bin seit 21 Jahren krebsfrei. Damals sah ich der Angst ins Gesicht. Und ich erkannte: Ich kann kontrollieren, wie sehr mich Angst beeinflusst. Wenn man die Angst vor dem Tod überwindet, dann verändert sich Angst an sich. Ich habe keine große Angst mehr. Ich fürchte eher, wie andere auf Dinge reagieren könnten. Aber Angst bestimmt nicht mein Leben.

Am 28. Juni sind Sie in Köln. Stellen Sie sich vor, Sie gehen durch die Stadt, sehen eine junge Sängerin mit Gitarre in der Fußgängerzone. Was würden Sie ihr sagen?

Zuerst würde ich fragen, ob sie Englisch spricht – ich kann leider kaum Deutsch. Dann würde ich sie fragen: Was ist dein Traum? Und: Wenn du jeden Tag das tust, was du liebst: Das ist der Schlüssel zu deinem Glück. Genieße den Moment. Genieß, wo du gerade bist. Liebe jedes Lied, das du singst. Es geht darum, für Menschen zu singen und den Moment zu leben.

Frauengefängnis in Kansas, 2023: Sie haben dort gespielt?

Ja! Ich habe ein Live-Album aufgenommen: „I’m Not Broken“ heißt es. Es war ganz anders als damals, als Teenager. Damals war das Frauengefängnis Teil des Männergefängnisses – ein anderes Gebäude, aber derselbe Komplex. Es war beängstigend. Ich erinnere mich auch daran, zum ersten Mal Frauen zu sehen, die sich als Männer identifizierten. In den 70ern sprach niemand darüber.
Aber alle waren unglaublich enthusiastisch – damals wie heute. Musik bringt Menschen woanders hin – das ist zeitlos.

Haben Sie mit den Frauen über ihre Straftaten gesprochen?

Ja. Ich habe mit fünf Frauen gesprochen. Später schrieben sie mir Briefe. Ich erkannte: 90 % der Frauen sind wegen Drogen im Gefängnis. Drogenmissbrauch, Männer, die ihnen sagen, was sie tun sollen. Gewalt ist selten. Meist sind es psychische Probleme und Kindheitstraumata. Das wurde sehr deutlich.

Wie klingt der Soundtrack Ihres aktuellen Lebensabschnitts?

Ich habe vor ein paar Wochen ein neues Album aufgenommen. Das ist jetzt mein Soundtrack. Es ist sehr root- und rockbasiert, ohne Technik-Spielereien – einfach die Band und ich. Sehr persönlich, emotional, und doch voller Energie.

Gibt es einen Song, den Sie in den letzten Monaten besonders lieben von jemand anderem?

Warten Sie, ich schau mal in meine Playlist. Ich höre aktuell viel Country – Americana. Ich mag Ashley McBryde, Nathaniel Rateliff, Allison Russell.

Vielen Dank für das Interview, Miss Etheridge.


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